
Reiten und Pferdeausbildung
„Die Dressur ist für das Pferd da,
nicht das Pferd für die Dressur."
-Bent Branderup
Die Lebensumstände und Nutzung unserer Pferde haben essenziellen Einfluss auf deren Gesundheit. Wir als Halter und Ausbilder haben Verantwortung für diese. Den physischen und psychischen Bedürfnisse unseren vierbeinigen Partner gerecht zu werden, muss unsere oberste Priorität sein!
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Kaum ein Thema ist so diskutier unter Pferdebesitzer, wie die Art und Weise Pferde auszubilden und zu arbeiten. Die Reitlehren bekriegen sich regelrecht gegenseitig und Reiter verteidigen ihre Prinzipien wie Anhänger einer Sekte ihren Glauben. Es geht schon lange nicht mehr darum, Dinge zu wissen, es geht nur noch darum, was wir glauben zu wissen. Ein sehr trauriger Umstand, steht uns doch in Zeiten des Internet so viel Wissen wie noch nie zuvor zur Verfügung.
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Wir leben in einer Zeit, in der jeder für kleines Geld in einer der zahlreichen Reitschulen "reiten lernen" und sich jeder, der die nötigen finanziellen Mittel zur Verfügung hat, selbst ein Pferd kaufen kann. Verbände veranstalten Turniere in denen wir unser Können mit anderen messen können und Reiten ist sogar eine olympische Disziplin. Uns stehen alle Möglichkeiten zur Selbstverwirklichung offen.
Aber gleichzeitig gerät die Reiterei immer mehr in die Kritik, da mehr und mehr Skandale im Reitsport öffentlich werden, die der Welt als bedauerliche Einzelfälle verkauft werden. Aber diese "Einzelfälle" häufen sich in den letzten Jahren zunehmend und die kritischen Stimmen gegenüber der gesamten Reiterwelt werden immer lauter und das öffentliche Bild wird zunehmend schlechter.
Spätestens jetzt sollen wir begingen, die Grundsätze und Methoden der modernen Reiterei in Frage zu stellen. Wir rühmen uns, so fortschrittlich und gebildet zu sein, wie noch nie in der Geschichte zuvor, aber entspricht das wirklich ser Realität? Was ist Wunsch und was Wirklichkeit?​
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Also werfen wir einmal einen kritischen Blick auf die Reiterei. Aus ganz wissenschaftlicher Sicht, ohne jegliche Ideologie einer Reitlehre.
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Beginnen wir also am Anfang jeder Reiterei: dem Pferd.
Die Anatomie des Pferdes ist eine Konstante, an der wir mit keinem Mittel der Welt vorbei kommen. Der Grundstein für jedwede Ausbildung muss also das körperliche Vermögen des Pferdes als Rahmen haben und wir müssen dessen Grenzen respektieren. ​Also gilt es, diese zuallererst mindesten im wesentlichen zu kennen.
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Das Pferd als Fluchttier ist so konstruiert, dass es nahezu ohne Muskelkraft laufen kann. Der sprungfederähnliche Aufbau der Hinterhand macht dies möglich. Das Pferd ist als schneller Geradeausläufer konzipiert und Kurven werden in großen Bögen, mit Außenstellung und legen in die Kurve genommen. All dies geschieht mit gehoben Kopf und mit offenem Genick und Ganaschen.
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Nun kommen wir als Mensch und setzen uns auf den Rücken des vierbeinigen Ferraris.
Unsere bloße Anwesenheit genügt, um das natürliche Gleichgewicht des Pferdes komplett zu Nichte zu machen. Wir verändern mit unserem Gewicht und dem Hebel, den unser Oberkörper hat, den natürlichen Schwerpunkt des Pferdes.
Das Eigengewicht des Pferdes verteilt sich zu ca. 60% auf die Vorhand, da hier Kopf und Hals mit getragen werden. Wir als Reiter sitzen direkt hinter der Schulter und unser Gewicht verteilt sich dadurch zu 2/3 ebenfalls auf die Vorhand. Der Überlastungskoeffizient steigt also signifikant.
Das Pferd besitzt zudem kein Schlüsselbein und der Rumpf wird ausschließlich durch Muskulatur getragen und gestützt. Ein Reiter sollte laut offizieller Empfehlung <15% des Sollgewichtes des Pferdes wiegen (ab 20% gilt das Reitergewicht als Tierschutzrelevant!). Die Belastung auf die Muskulatur steigt also um unser Gewicht.
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Wir haben uns also noch nicht einmal einen einzigen Schritt gemeinsam mit dem Pferd bewegt und schon massiv mechanisch auf das Pferd Einfluss genommen. Allein mit unserer Anwesenheit auf seinem Rücken bringen wir das Pferd aus dem Gleichgewicht, müssen durch aktiven Einsatz von Muskelkraft getragen werden und überbelasten mit dem Zusatzgewicht die Vorhand.
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Deswegen ist unsere Aufgabe nun, dem Pferd beizubringen mehr Last auf die Hinterhand zu bringen, um zumindest das Reitergewicht kompensieren zu können und dem damit einhergehenden Verschleiß der Vorhand entgegen zu wirken. Das verteilen des Gewichtes geht zwingend einher mit dem heben des Kopfes und Halses (bei offenem Genick und Ganasche!), denn umso tiefer diese eingestellt sind, desto mehr verlagert sich deren Gewicht nach vorne.
Wir benötigen also Gleichgewicht.
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Dieses Gleichgewicht kann nur solange bestehen, wie das Pferd seinen Rumpf aktiv trägt und hebt. Wir müssen die Muskulatur, speziell die des Rumpfträgerapparates so sorgfältig auftrainieren, dass das Pferd tragen kann. Die Dauer bis zur Muskelermüdung ist zeitlich limitiert durch den Trainingszustand dieser Muskelgruppe und beträgt bei einem gut trainiertem Pferd maximal 20 - 30 Minuten.
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Da wir für gewöhnlich Pferde auf begrenztem Raum in Form von Reitplatz oder Reithalle bewegen, müssen wir dem Geradeausläufer Pferd das Bewegungsmuster in einer Kurve neu beibringen, denn sonst würde das Pferd seiner Natur folgend die Kurve mit Außenstellung, rotieren des Rumpfes nach innen und mit stützen auf die innere Körperhälfte laufen. Unser Gleichgewicht würde verloren gehen und wir würden eine Körperhälfte durch stützen anstatt tragen überbelasten.
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Schnell wird klar, die Grundprinzipien der Reiterei sind Gleichgewicht und Tragkraft.​​​​
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​Wir stellen jetzt schon bei der Basis sehr schnell die Diskrepanz zwischen der Theorie und der praktischen Ausführung in den Reitlehren fest. Wir sehen aufgerollte, auf der Vorhand mit der Nase in den Boden, oder mit weit weggeschobener Hinterhand gerittene Pferde. Alles das Gegenteil von Gleichgewicht und Tragkraft.
Aber warum ist das so? Bis heute werden die verschieden Regelwerke der Reitlehren immer wieder überarbeitet und modernisiert, also müssten diese doch auf dem neusten Stand sein. Es kann sich also nicht um neue wissenschaftliche Erkenntnisse handeln. Die ernüchternde Wahrheit ist, dass diese Prinzipien bereits in der Antike Bestandteil der Pferdeausbildung waren. Die Frage, die sich nun stellt ist: wann begann der Irrweg der modernen Reiterei?
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Die Geschichte der Reiterei reicht weit zurück. In der Antike wurde begonnen zu Pferde zu kämpfen und Kriege zu führen und es entwickelten sich komplexe Reit- und Wendemanöver. Auf dem Schlachtfeld war das eigene Überleben maßgeblich von der Qualität der Ausbildung, Mitarbeit und Gesundheit des Pferdes abhängig. Schon hier wurden die ersten Texte und Anleitungen zur Ausbildung verfasst. Eine zu tiefe Kopf-Hals-Position war schon laut Xenophon einer der größten Ausbildungsfehler, die man machen konnte.
Im Mittelalter wurden dann die Turniere erfunden. Das Wort Turnier kommt von dem französischen Wort "tourner" und bedeutet dehnen oder wenden. Korrekt übersetzt wäre also das Turnier nicht gleichbedeutend mit Wettkampf, sondern Turnen, das anwenden gymnastischer Übungen. Und als solches war es ursprünglich auch gedacht. Turniere waren militärische Übungskämpfe. Wer hier siegen wollte, brauchte ein hochgradig versammeltes Pferd, welches in der Lage war, enge Kehrtwendungen und Pirouetten zu springen.
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Mit der Renaissance kam die Zeit der Naturwissenschaften und der Künstler und in Italien eröffnete die erste Ritterakademie. Hier lernten von nun an die Adligen das Reiten. Das Kunstreiten, oder Reitkunst wurde geboren. Reiten wurde zum Statussymbol und man stellte stolz zur schau, wie gut geschult die Pferde waren, die man besaß. Es wurden keine Kosten und Mühen gescheut, diese Tiere auszubilden und entsprechend wertvoll waren solche Reitkunstpferde. Von Italien aus verbreitete sich das Kunstreiten über ganz Europa. Die einzige Ausnahme hiervon war England.
Mit der Kolonialisierung Amerikas gelangte auch die europäische Reitkultur hierher. Hieraus entwickelte sich die altkalifornische Reitweise. Neben der Reitweiße der Vaqueros, die ganz nach europäischem Vorbild ihre Pferde in Versammlung ritten, entwickelte sich abseits der gehobenen Reiterei der Kalifornier unter den einfachen Rinderhirten der Texasstil. Dieser wurde stark vereinfacht und war als rein pragmatische Gebrauchsreiterei für den Viehtrieb gedacht. Aus dem Texasreiten entwickelte sich später das, was wir heute Westernreiten nennen.
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In England setzte sich eine andere Nutzung der Pferde durch, als im Rest von Europa. Hier wurde die Steeplechase (Kirchturmjagd) erfunden und der Fokus wanderte vom pompösen Kunstreiten zu geschwindigkeitsorientiertem Renn- und Jagdreiten. Die eigentliche englische Reiterei wurde geboren. Das ruhige sitzen im Sattel, wie es bis dahin üblich war, war bei den neu für diese Nutzung gezüchteten Pferde und der Bevorzugung von Schub und Geschwindigkeit, anstatt Kraft und Balance nicht mehr möglich. Das Leichtraben und Stehen im Bügel wurde erfunden. Auch das zuvor einhändige Reiten wurde durch eines mit beiden abgelöst, da es nicht mehr notwendig war, weil keine Waffe mehr geführt werden musste. Die Kandare wurde durch die Wassertrense ersetzt, die zuvor ausschließlich beim Fahren ihren Einsatz fand. Die mangelhafte Ausbildung der Reiter führte dazu, dass diese sich des Öfteren an den Zügeln festhielten, was mit Kandaren zu teils schlimmen Unfällen führte.
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Englischreiten wurde im restlichen Europa schnell zu einem Schimpfwort.
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Die Industrialisierung veränderte die Kriegsführung und Maschinen dominierten zunehmend das Kriegsgeschehen. Die Wehrpflicht wurde eingeführt und wo früher die Kavallerie ausschließlich aus ausgebildeten Berufsreitern bestand, wurden die Armeen mit jungen reiterlich ungebildeten Rekruten gefüllt. Schlachten wurden nicht mehr zu Pferde im Nahkampf ausgefochten, sondern mit Schusswaffen und Kanonen aus der Distanz, sodass das Pferd zu einem rein zweckmäßigem Transportmittel verrohte. Reiter und Pferde waren in den Weltkriegen entbehrliches Kanonenfutter geworden und mussten leicht zu ersetzen sein. Die Lektionen der Reitkunst wurden zu unbrauchbaren Spielereien und eine schnellere und simplere Methode zur Pferde- und Reiterausbildung musste her. Reitkunstschulen begannen sich zu leeren und schließlich zu verschwinden.
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Aus den Lehren des modernen Militärs und der dafür geschrieben H.Dv.12 entstand nun die klassische Reiterei. Erst Spring- und anschließend Dressurreiten wurden Teil der Olympischen Spiele und schnell entwickelte sich das Reiten zu einer populären Sportart. Der Reitsport wurde geboren.
Das Reiten erfreuten sich im ​Nachkriegsdeutschland immer weiter wachsender Beleibtheit und wurde zum Breitensport. Das Freizeitreiten wurde erfunden.
Das Pferd, welches dem Mensch mehrere tausend Jahr als Kampfgefährte beistand, wurde überflüssig und fand seinen neuen Platz im Volkssport und diente fortan nur noch der Unterhaltung der Massen.
Ab hier stand uns Tür und Tor offen, für die Zukunft der Reiterei, befreit von jedwedem Sachzwang von Krieg und Schlachtfeld. Wir haben uns entwickelt, doch ist nicht jede Entwicklung mit Fortschritt gleichzusetzen.
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Um das Reiten als Sport jedem zugänglich zu machen, entstand eine möglichst einfache Ausbildungsmethode, auf Grundsätzen der vereinfachten Militärreiterei. Das Reiten wurde trivialisiert. Und seit der Entstehung des Regelwerks und der Ausbildungsskala wurde dies bis heute immer weiter angepasst. Einhändiges Reiten, wie es in der H.Dv.12 ursprünglich noch gelehrt wurde, verschwand. Die Bewertung von Leichtigkeit wurde gestrichen und das Verständnis von Versammlung wurde neu definiert und verkam zur Antiversammlung (Vorderbeine rückständig und stützend, die Hinterhand kaum oder garnicht untertretend). Grundlegende Elemente wie Gleichgewicht fehlen ebenfalls bis heute gänzlich. Stattdessen erfanden wir die Rollkur.
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Als Folge moderner Methoden, die im Widerspruch mit der Natur und Biomechanik des Pferdes stehen und diese gänzlich missachten, haben diese entsprechend negative Auswirkungen auf die Gesundheit unserer Pferde. Es ist also nicht verwunderlich, dass der Großteil aller Erkrankungen des Bewegungsapparates ihren Ursprung in der unsachgemäßen Nutzung haben.
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Getrieben von sportlichem Ehrgeiz und wirtschaftlichem Interesse, haben wir das Pferd als fühlendes Lebewesen und dessen körperlichen und auch psychischen Bedürfnissen, in dieser Entwicklung vergessen. Wir optimieren durch Zucht unsere modernen Pferde nach den Wünschen und Moden des Sports, zu Lasten der Stabilität und damit der Gesundheit und Lebenserwartung unserer Pferde.
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Also ist jedwede Kritik an der modernen Reiterei absolut gerechtfertigt und sie darf, in der Form wie sie aktuell besteht, nicht weiter existieren! Das wir uns so an den Anblick von misshandelten Pferden gewöhnt haben, ist Zeugnis für den Irrweg, den die Reiterei eingeschlagen hat. (Reit)sport und Tierwohl sind nicht miteinander vereinbar. Der unfreiwillig beteiligte Pferd, wird immer unter dem falschen sportlichem Ehrgeiz und/oder Mangel an Verständnis für die eigenen körperlichen Bedürfnisse und zu leiden haben.
Das ganze bedeutet nun aber nicht, das wir nicht sportlich orientiert reiten können, wir können es nur nicht mit den aktuellen klassischen Methoden.
​Wir brauchen also nicht nur eine veränderte Reitlehre, sondern eine bessere!
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Wir müssen dringend ein Bewusstsein um die Notwendigkeit einer Pferdeausbildung, die einen Mehrwert für das Pferd hat und es überhaut dazu befähigt einen Reiter zu tragen, schaffen. ​​​​​​​​Wir müssen anfangen, die Wissenschaft und die Anatomie mit in unsere Nutzung einfließen zu lassen, um unsere Reiterei pferdefreundlich zu gestalten. Wir brauchen wieder mehr Respekt gegenüber den Pferd und Pädagogik muss dringend jedwede Form von Zwangsmittel und Gewalt ersetzen, damit wir die Reiterei wieder etisch vor unseren Mitmenschen vertreten können.
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Damit irgendwann die Grundsatzfrage, ob es etisch vertretbar ist, ein Pferd zu reiten oder nicht, nicht mehr notwendig ist, da wir nach bestem Wissen und Gewissen unsere Pferde arbeiten und nicht länger bewusst oder unbewusst ihrer Gesundheit schaden.​